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om8 / Band 2
Johann Gottlieb Naumann (1741–1801)
Miserere
für Soli und Chor (SATB), 2 Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str und Bc
Herausgegeben von Wolfgang Eckhardt
om8
Ausgaben*

Kompositionen des Bußpsalms Miserere (nach der Zählung der Vulgata Psalm 50) gab es in der alten katholischen Hofkirche zu Dresden bereits seit 1710, wie aus den in diesem Jahr beginnenden Aufzeichnungen des Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae eindeutig hervorgeht. Sie erklangen in Andachten an den Freitagen der Fastenzeit, innerhalb derer auch die Fastenpredigten gehalten wurden und deren Ablauf seit dieser Zeit über mindestens zwei Jahrhunderte konstant blieb. Zu Beginn dieser Andachten wurde vor ausgesetztem Sanctissimum der Psalm Miserere figuraliter musiziert; daran schloß sich die Predigt an, während der das Sanctissimum durch eine Sakramentsfahne verdeckt war. Es folgten ein weiterer, in den Quellen meist nicht näher bezeichneter Gesang, Versikel und Oration des Priesters, der Hymnus Pange lingua und der sakramentale Segen sowie am Ende das Lied O Lamm Gottes unschuldig. Seit 1730 wurden solche Andachten in der Fastenzeit täglich außer an Samstagen sowie Sonn- und Feiertagen gehalten, wobei aber die Fastenpredigt mit dem folgenden Gesang nur freitags (und außerdem sonntags nach der Vesper) stattfand. Nach der 1733 erfolgten Reduzierung des Hofkirchenensembles fiel die Ausführung des figuraliter musizierten Miserere sowie der übrigen Gesänge in den Aufgabenbereich der Hofkapelle und die Andachten blieben in der Drsdner Hofkirche unverändert bis weit in das 19. Jahrhundert hinein erhalten. Nach Friedrich August Forwerks Geschichte und Beschreibung der königlichen katholischen Hof und Pfarrkirche zu Dresden wirkte Mitte des 19. Jahrhunderts das Orchester in den Miserere-Andachten allerdings nur noch mittwochs und freitags mit; an den anderen Tagen wurden entsprechende Vokalkompositionen mit Orgelbegleitung aufgeführt. Die Tendenz, die Mitwirkung des Orchesters an den Nachmittagsgottesdiensten (außer den Andachten auch Vespern und Litaneien) zu reduzieren, setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort: 1887 wurde eine Gasbeleuchtung in der Katholischen Hofkirche installiert; und dies war die Voraussetzung, um die Miserere-Andachten von vier Uhr nachmittags auf sieben Uhr abends zu verlegen. Von dem folgenden Jahr an wurde die entsprechende Musik nur noch von den Kirchensängern und Kapellknaben mit Orgelbegleitung ausgeführt. Nur die Andacht am Fest der Sieben Schmerzen Mariä (Freitag vor Palmsonntag) behielt ihren ursprünglichen Platz um vier Uhr nachmittags und in ihr wurden weiterhin bis zum Ende der Monarchie 1918 Miserere und Stabat mater mit Orchesterbegleitung gesungen.

Spätestens seit 1734 bildete sich allmählich ein mehr oder weniger festes Repertoire an Kompositionen des Bußpsalms Miserere heraus, das schrittweise erweitert und erneuert wurde. Im Rahmen seiner Aufgaben als Kirchen-Compositeur und Kapellmeister schrieb auch Johann Gottlieb Naumann (1741–1801) zwei Miserere in Es-Dur und a-moll, die durch Eintragungen jeweils am Ende der autographen Partitur auf „Februar 1779“ bzw. „1799/1800“ datiert sind. Naumann wurde in Blasewitz bei Dresden geboren und erhielt als Sechzehnjähriger Gelegenheit, den schwedischen Geiger Anders Wesström auf seiner Reise zunächst nach Hamburg und später nach Italien zu begleiten. Der junge Naumann erhielt Unterricht bei Giuseppe Tartini in Padua, Giovanni Battista Martini in Bologna und Johann Adolf Hasse in Venedig. Auf die Empfehlung des letzteren wurde er nach der Aufführung einer Probemesse ab 1. August 1764 als zweiter Kirchen-Compositeur neben Johann Georg Schürer (um 1720–1786) am Dresdner Hof angestellt. Wenig später wurde Domenico Fischietti (um 1725–nach 1810) in Dresden als Hofkapellmeister verpflichtet worden und übernahm die Leitung des Kirchendienstes im wöchentlichen Wechsel mit Schürer und Naumann. Letzterer wurde jedoch schon 1765 zusammen mit Joseph Schuster und Franz Seydelmann – beides Söhne von Sängern der Hofkapelle – bis 1768 zur deren weiterer Ausbildung nach Italien geschickt. Nach dem Ausscheiden von Fischietti und der zum 1. Mai 1772 erfolgten Ernennung von Schuster und Seydelmann zu Kirchen-Compositeurs verteilte sich die abwechselnde Leitung des Kirchendienstes nunmehr auf vier Musiker. Naumann reiste allerdings von 1772 bis 1774 nach Italien, um auf eigene Rechnung Opern zu komponieren und aufzuführen, ebenso Schuster von 1778 bis 1781. Außerdem hielt sich Naumann 1777/78 und 1782/83 in Stockholm und 1785/86 in Kopenhagen auf, um die dortigen Hofopern zu reorganisieren. Es standen also nur selten alle für die Leitung der Kirchenmusik in Frage kommenden Musiker gleichzeitig zur Verfügung. So sind die in den meisten Fällen datierten Kompositionen Naumanns und Schusters für den Dienst in der Katholischen Hofkirche auch ein Spiegel ihrer jeweiligen Anwesenheit in Dresden. Naumann, der im Februar 1776 zum Kapellmeister ernannt worden war, erhielt mit Wirkung vom 1. November 1786 eine weitere Erhöhung seines Jahresgehaltes auf 2000 Thaler und wurde außerdem vom wöchentlichen Wechsel im Kirchendienst befreit. Fortan hatte er die Kirchenmusik nur noch zu Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Fronleichnam zu leiten und dabei ausschließlich eigene Werke sowie Musik von Johann Adolf Hasse aufzuführen.

Die Entstehung von Naumanns Miserere Es-Dur fiel in eine Zeit, als zum Ende der Spielzeit 1777/78 der Vertrag mit dem vom Hof subventionierten Opernunternehmen des Impresario Giuseppe Bustelli wegen des Bayrischen Erbfolgekrieges ausgelaufen war. Da die Opernsänger auch bei den Aufführungen in der Kirche mitwirkten, führte die Reduzierung des Sängerpersonals bis zum Engagement einer neuen Truppe unter der Leitung von Impresario Antonio Bertoldi im Frühjahr 1780 zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen des Kirchendienstes. Angesichts dieser unbefriedigenden Situation mahnte der Directeur des plaisirs Friedrich August von König beim Kurfürsten neue Sängerengagements an, da „das Chor, wo nicht die Kirchen Music, wie dennoch zu befürchten ist, nächstens ganz stille stehen soll, … Ew. Churfürstl. Durchl. haben geschickte Compositeurs und ein gut eingespieltes Orchestre, allein beyde bleiben ohne Nuzen, wenn die Absicht ihrer eigentlichen Bestimmung, durch Mangel derer Stimmen hinweg fallen muß.“ Friedrich August von König hielt auf Grund der Größe des Kirchenraumes sechs Sänger pro Stimme, mindestens aber vier für notwendig. Seine Vorschläge wurden jedoch abgelehnt, weil bereits absehbar war, daß ab dem Frühjahr des folgenden Jahres wieder Opernsänger zur Mitwirkung beim Kirchendienst zur Verfügung stehen würden. Die geschilderte Situation wirkte sich auch auf die musikalische Faktur von Naumanns hier vorgelegtem Miserere Es-Dur bis in Details hinein aus. Größere Soli sind nur für den Soprankastraten Nicolaus Spindler und einen der beiden in Frage kommenden Tenoristen (Ludovicus Cornelius oder Franz Ignatius Seydelmann, der Vater des Kirchen-Compositeurs und späteren Kapellmeisters) vorgesehen; dazu kommt ein kurzes Solo für einen der Bassisten. Auch die weitreichende Verstärkung der Singstimmen durch die Holzbläser dürfte der prekären Situation bei den Kirchensängern in der Fastenzeit 1779 entgegengekommen sein. Das Gesagte bedeutet jedoch nicht, das die vorliegende Komposition nur ein Werk für Notstandssituationen im Chor der Hofkirche gewesen ist. Naumann wußte insbesondere die Möglichkeiten, die ihm die Bläser der Hofkapelle boten, wirkungsvoll für das spezifische Klangkolorit der Dresdner Hofkirchenmusik einzusetzen. Ebenfalls typisch für diesen Stil sind die verhaltenen Anfänge und Schlüsse einzelner Sätze bzw. des ganzen Werkes. Wie lange das Miserere Es-Dur nach Naumanns Tod im Musikrepertoire der Dresdner Hofkirche verblieb, läßt sich gegenwärtig nicht sicher sagen. Mit dem Inkrafttreten der neuen Bedingungen nach 1786 entfiel für den Komponisten die Notwendigkeit, zu den Andachten in der Fastenzeit mit alten oder neuen Kompositionen des Miserere aufzuwarten. Trotzdem schrieb er am Ende seines Lebens noch ein zweites Miserere in a-moll, ohne daß der Grund dafür bekannt ist. Generell ist jedoch zu vermuten, daß beide Miserere-Kompositionen Naumanns zumindest im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch nicht in Vergessenheit geraten waren.

(Vorwort zur Partitur von Gerhard Poppe)

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