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Helmut Zapf (1956–)
Lilith
Kammermusik in Bildern
für Sopran, Bariton, Kammerensemble, 2 Tänzer, 3 Sprecher und elektroakustische Zuspiel- und Videoprojektion
Uraufführung: Pfingsten 2000, Schlosstheater Rheinsberg
Auftragswerk der Musikakademie Rheinsberg
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Ausgaben*

Gedanken zur Kammermusik in Bildern: Lilith

von Helmut Zapf
 

Die Figur Lilith existiert in zahlreichen Legenden und Mythen. Ebenso zahlreich und unterschiedlich sind dabei die Darstellungen über ihr Wesen. In der altorientalischen Überlieferung ist sie ein weiblicher Dämon, im Alten Testament wird sie nur einmal kurz als Bewohnerin eines von Gott gestraften und zerstörten Landes erwähnt (Jesaja 34,14), im jüdischen Volksglauben gilt sie als Adams erste Frau.

Meine Auseinandersetzung mit der Figur Lilith begann durch das Kennenlernen der gleichnamigen Prosaerzählung von Kerstin Hensel. Weiteres biographisches Material über Lilith und den Schöpfungsmythos von Mann und Frau begegnete mir unter anderen im Midrasch (hebräisch = Untersuchung), einer alten Schriftensammlung jüdisch - rabbinischer Bibelauslegungen, die sich mit ihren Kommentaren und Beschreibungen durchaus sehr weit von ihren zu interpretierenden Bibeltexten entfernt. Im Zusammenhang mit der Schöpfungsgeschichte beschreibt der Midrasch, im Gegensatz zu der alttestamentlichen Überlieferung, daß Eva Adams erste Frau war, die gleichzeitige Erschaffung von Adam und Lilith.

Gott schuf Lilith genauso wie Adam aus Staub und Erde. Diese körperliche Gleichheit löste zwischen beiden ständigen Streit aus, denn Lilith weigerte sich u.a. auch beim Beischlaf die Unterlegene zu sein, und sich Adams Rhythmus anzupassen. Sie beanspruchte Gleichberechtigung. Als Lilith erkannte, daß ihre Forderung von Adam nicht beachtet wurde, wandte sie sich an ihren Schöpfer. Mit weiblicher List entlockte sie ihm sein größtes Geheimnis, seinen Namen. Sie tat das Verbotene, indem sie ihn bei seinem geheimen Namen nannte und befahl ihm ihr Flügel zu verleihen, damit sie nicht mehr an den fruchtlosen Ort des Paradieses gebunden war. Lilith entfloh zur Erde, in die Wüste und an die Ufer der Meere, paarte sich dort mit Dämonen um ihre eigene Brut zu sichern. Fortan wollte sie als ewige Rächerin die Nachkommenschaft der Menschen verhindern, indem sie die unbeobachteten Säuglinge erwürge. Als Gott zwei Engel entsandte, um Lilith in den Himmel zurückzuholen, damit sie keinen weiteren Schaden anrichte, weigerte sie sich. Sie traf jedoch ein Übereinkommen mit den Gesandten, welches besagte, daß jedes Neugeborene, das ein Amulett mit ihren Namen trüge, von ihrer Rache verschont bliebe.

Eine andere Auslegung sagt: Gott schuf den Menschen männlich und weiblich, einen Menschen mit zwei Gesichtern. Diese Einheit aber empfand Gott als Beleidigung seiner eigenen Ganzheit, so gab er jedem Gesicht seinen eigenen Rücken und es entstanden Mann und Frau aus einem Fleisch. Der daraus berechtigte Anspruch Liliths auf Gleichheit führte wieder zum Konflikt, welcher bereits zu Beginn der Schöpfung ihre gegebene Ordnung stört, so fehlte nach der Flucht Liliths das andere bedeutende Glied in der Schöpfung, Adams weiblicher Gegenpart. Adam forderte eine neue Partnerin und Gott schuf ihm, wie es im zweiten Schöpfungsbericht des Alten Testaments steht, aus der Rippe Adams Eva, einen Ersatz, ein Zugeständnis, eine Gehilfin…

Für mich ist das Scheitern Liliths an Gottes Plan (oder das Scheitern von Gottes Plan), ihre Flucht aus dem Paradies, ihre Suche nach Freiheit, ein erster kreativer Prozeß zwischen Gott und dem Menschen. Dieser Prozeß wurde und wird in allen Religionen, und seien sie noch so verschieden, fast immer unterdrückt und der Widerspruch zu Gott als Ungehorsam, Zerstörung und Verteufelung bezeichnet und ganz ins dämonische gerückt. Lilith bleibt nach ihrer Flucht aus dem Paradies die ewige Zerstörerin.

So zahlreich wie die Mythen über Lilith auch sind, so zahlreich sind auch die Geschichten über ihren Aufenthalt und ihr Wirken nach der Flucht: Sie ist Dämonin in der Unterwelt, die Verführerin (Schlange, oder selbst Eva) im Paradies sowie die Verführerin der Männer allgemein, auch wird sie als das flammende Schwert vor den Toren des Paradieses bezeichnet, von dort kann sie die aus dem Paradies verstoßenen Menschen bei ihrem Treiben beobachten und weiterhin verführend und zerstörend eingreifen. – Der Ausgang der Geschichte des ersten Menschenpaares wirft Fragen auf: Warum fühlte sich Lilith unterdrückt und nicht Adam? Was unterschied Adam von Lilith, wenn Gott doch beide gleich geschaffen hat? –

All die Widersprüche der einzelnen Mythen selbst und ihre vielen Erscheinungsformen waren für mich schon sehr zeitig ein musikalischer Reiz, ohne dabei mir im klaren zu sein, welche textliche und eventuell auch szenische Umsetzung sich dadurch herauskristallisiert. Sehr bald aber war für mich klar, daß Lilith und Eva nur durch ein und dieselbe Person in meiner Komposition musikalisch dargestellt werden sollte, um den Prozeß der Verwandlung durch Musik, Text und Szene als wichtiges Mittel der Interpretation mir vorzubehalten und auch um eine übliche, auf der Bühne oft erprobte Dreiecksbeziehung von vornherein auszuschließen. Auf diese Weise wird die Verwandlung von Lilith in Eva Schwerpunkt meiner musikalischen Dramaturgie.
Besonders das Mittel der Elektroakustischen Musik erschien mir in diesem Wechsel zwischen Lilith und Eva als geeignete und Raum schaffende Klangebene gegenüber dem sonst musikalisch dominierenden Kammerensemble. Auch wollte ich keine Oper schreiben, bei der die Sänger normalerweise von vornherein als Schauspieler eingesetzt werden, vielmehr sollte das szenische Geschehen, genau wie die Musik, nur ein poetischer Vorgang sein, dessen Bewegungen weder die Musik noch die widersprüchliche Handlung nacherzählen bzw. kommentieren. Die beiden Protagonisten werden durch zwei Tänzer dargestellt. Den Prozeß der Entstehung, des Begehrens, des Scheiterns und der dadurch begründeten Verwandlung wird in einem parallelen, von der Musik unabhängigen Vorgang erzeugt.

Diese Aufteilung erscheint mir als geeignetes Mittel, den inhaltlichen Konfliktstoff auch als Widerspruch szenisch geltend zu machen, da die beiden Sänger getrennt von ihren szenischen Gegenparts wirken sollen. – Musik und Regie können somit unabhängig voneinander existieren, aber dennoch gemeinsam funktionieren. – Auf Grund dieser Überlegungen entfaltete Kerstin Hensel ihre Erzählung als Libretto, welches derzeit von mir und der Regisseurin Aniara Amos in einer Art Verarbeitungsprozeß umgesetzt wird: Im Gegensatz zur traditionellen Operninszenierungen sollen alle Ebenen autonom funktionieren, wobei das Libretto die Form des Erzählers als weitere eigenständige Ebene zu Musik und Tanz provozierte: Eine Videoprojektion (Norbert Baumgart), welche sich zu den bereits dargestellten Ebenen, Musik und Szene, abstrakt verhalten soll. Sie integriert sich als visuelle Brechung des im Libretto fragmentarisch auftauchenden Schöpfungsberichts und läßt im Verlauf des Stückes dessen sprachliches Erscheinen dennoch offen. Ziel soll es sein, beim Zusammenspiel der verschieden Ebenen dem Zuschauer die Vereinigung dieser klanglichen und optischen Räume selbst zu überlassen, damit er in den Entstehungsprozeß des Stückes mit einbezogen wird.

Besetzung

Sopran, Bariton, Kammerensemble (Fl, Ob, Kla, Va, Vc, Kb, 2 Percussion, Piano, Harmonium), 2 Tänzer (Frau, Mann), 3 Sprecher sowie eine elektroakustische Zuspiel- und Videoprojektion

 

Auftragswerk für das neue Schlosstheater
anlässlich der Pfingstwerkstatt 2000
durch die Musikakademie Rheinsberg

 

Das erste Bühnenwerk von Helmut Zapf wurde am 11./12. Juni 2000 in der Kammeroper (Schlosstheater) Rheinsberg uraufgeführt; am 14. Juni 2000 wurde die Kammermusik in Bildern in Berlins neuer Mitte vorgestellt.

Ensemble SurPlus

Eiko Morikava (Sopran), Hagen Matzei (Bariton), Maulwerker (3 Sprecher), Norbert Baumgarten (Video), Aniara Amos (Regie), James Averi (Leitung)

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